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Zurück in die Zukunft
Es ist so weit, alle hinhaltenden
Vorbereitungen sind
abgeschlossen, alle Möglichkeiten dreimal hin und her
gewälzt, der luftige
Standplatz am Ring optimal eingerichtet, der Seilpartner bereit
– jetzt muss
ich wohl los: Der feine Riss verliert sich bald in der schmalen,
überhängenden
Wand. Behutsam tastet die linke Hand weit hinaus an die messerscharfe
Kante,
Auge und Fuß suchen nach Tritten, der Körper gleitet
zögernd hinterher,
fürchtet noch das labile Gleichgewicht, das langsame aber
unaufhaltsame Drehen
um die Türangel, kein Fels mehr in Sicht, nur noch Luft... Und
plötzlich stehe
ich draußen, eine Sanduhr in der Hand, blicke an meinen
Füßen vorbei nach unten
entlang der sich in überhängender Ferne verlierenden
Kante und die Erkenntnis
fährt mir heiß unter die Haut: Hier warst du schon
einmal! Das hier ist die
Kletterstelle, von der du schon immer geträumt hast, aber nie
wusstest wo sie
ist, die du kennst, ohne sie jemals geklettert zu haben. Ein
Lächeln macht sich
breit, das Bewusststein, im richtigen Moment am richtigen Ort zu sein,
jegliche
Zweifel sind wie weggeblasen, und noch bevor ich die
Schlüsselgriffe überhaupt
angefasst habe, weiß ich: Heute wird alles gut.
Minuten später, oder Stunden, oder Tage? Ich sitze auf dem
Gipfel und die
schiere Lebensfreude, das wunschlose Glück treibt mir die
Tränen in die Augen.
Dieser Moment, allein, ganz oben, das Wissen, dass der Freund schon am
Seil
unterwegs ist, um bald die Begeisterung teilen zu können, der
warme Wind auf der
Haut, die Sonne, das Rauschen der Baumkronen weit unten, das
Gefühl von
weichem, rundem Sandstein unter den endlich wieder aus den stinkigen
Kletterschuhen befreiten Füßen, das ist es was noch
Jahre danach golden
schimmernd im Gedächtnis lebt.
Es gibt wunderbare Felsen in Deutschland, in Europa, auf der ganzen
Welt –
warum ist es gerade der Sandstein entlang der Elbe an der
tschechisch-deutschen
Grenze, der solche Emotionen auslöst, der niemanden
unberührt lässt und zu dem
jeder Kletterer eine Meinung hat: Liebe, Hass oder beides zugleich?
Die Antwort findet sich nicht in den Felsen der Sächsischen
Schweiz selbst.
Denn auch wenn ihre über tausend bizarren, bis zu 80 Meter
hoch aufragenden
Türme allein schon als Naturschönheit begeistern und
rein von der Anzahl und
der Qualität das mit Abstand bedeutendste
außeralpine Klettergebiet in
Mitteleuropa darstellen, so erklärt dies noch nicht die
Sonderstellung, die das
sächsische Klettern innehat. Es sind die Menschen, die
Kletterer, die diesem
Gebiet das Gesicht gegeben haben, das es heute trägt. Es sind
über hundert
Jahre Tradition und über hundert Jahre bewussten Umgangs mit
dem Fels und der
Natur auf der einen Seite und dem eigenen Tun auf der anderen Seite,
die den
Elbsandstein so einzigartig machen. Und es sind die besonderen
kulturellen und
politischen Bedingungen, unter denen diese Felsenwelt eine Entwicklung
durchlaufen konnte, die sie aus der Masse der gleichförmigen
Sportklettergebiete heraushebt.
Der Hauch der Geschichte streift den Kletterer hier so häufig
wie nirgendwo
sonst. Anekdoten ranken sich um Gipfel wie in andernorts der Efeu und
kaum ein
Gipfelbuch, in dem man nicht die Namen der Helden von heute und gestern
lesen
kann. Und doch bedeckt nicht etwa jahrzehntealter Staub diese Monumente
der Klettergeschichte
sondern ganz im Gegenteil: Sie stehen frisch, scheinbar
unberührt und äußerst
leibhaftig, im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar in der Landschaft.
Der Schrammtorwächter: Das war der erste große
Gipfel auf dem ich stand. Und
natürlich hatte ich die Geschichten um seine Erstbesteigung
schon gelesen. Auf
der Schulter unter dem Gipfelaufbau standen wir so unsicher und mit
fragenden
Blicken wie damals 1905 die vielen gescheiterten Bewerber und wenn
Perry-Smith
persönlich, das Hanfseil umgebunden dem Kamin entstiegen
wäre und uns
angeherrscht hätte, ob wir nun einen Versuch wagen wollen oder
nicht, dann
hätten wir uns kaum gewundert.
Die Weinertwand: Wer ist so abgebrüht, die luftigen zwanzig
Meter zwischen
zweitem und drittem Ring als das zu klettern was sie sind –
eine herrliche Wand
genüsslicher Schwierigkeit in wunderbarem Fels – und
nicht den Nimbus der
ersten großen, frei und kühn durchstiegenen Wandzone
des Elbsandsteins als
Rucksack mitzuschleppen?
Die Westkante am Wilden Kopf: Da stehst du wie der einsamste Mensch der
Welt
hoch oben an der Reibungskante, hast dich schon bis hier gefragt, was
um alles
in der Welt einen Kletterer 1918 dazu getrieben haben kann, sich
einfach einen
Strick um den Bauch zu binden und in diese haltlosen Wandbereiche
einzusteigen,
und dann huscht der alte Strubich vor deinem geistigen Auge in
Filzschlappen an
dir vorbei, bewältigt eine Kletterstelle des unteren siebten
Grades praktisch
sicherungsfrei und holt in fünfzig Meter Höhe den
Kameraden an einer daumendicken
Birke nach...
Aber ich will hier nicht die Geschichte der sächsischen
Kletterei nacherzählen
– das haben berufenere Schreiber schon oft genug an anderer
Stelle getan. Wovon
ich hier berichten will, sind die Erlebnisse und Gedanken eines ganz
normalen
Durchschnittskletterers, der für seine Besuche in Sachsen
zunächst einmal durch
nichts qualifiziert war außer der Bereitschaft mit offenen
Augen und Ohren
Erlebnisse zu sammeln, Menschen zu begegnen und seinen Horizont zu
erweitern.
Elbsandsteingebirge, Sächsische Schweiz, das waren
für uns westdeutsche
Kletterer bis 1989 Geschichten aus einer unbekannten Welt. Es gab da
vielleicht
einen der jemanden kannte, der schon mal dort war. Und ja, klar, es gab
die
Berichte in den Klettermagazinen, die damals noch Bergsteigermagazine
waren
(und auch so hießen) von den DDR-Exkursionen der
westdeutschen Kletterelite,
die Bilder von Wolfgang Güllich im
„Dolch“, die Fotos von Stefan Glowacz in der
„Eiszeit“. Und es gab die schier unglaublichen, die
Phantasie beflügelnden
Beschreibungen kühnster Erstbegehungen durch Bernd Arnold,
barfuß, von unten
und ohne vorherige Erkundungen durch Schwierigkeiten sich
kämpfend, die man bei
uns bestenfalls nach langem Einstudieren oder bei optimaler Sicherung
für
kletterbar hielt. Aber eine Reise dorthin, das kam irgendwie nie in
Frage, war
einfach kein Thema.
Dann nach 1989 konnte man sehen, dass die Mauer in den Köpfen
fester stand als
die aus Beton an der innerdeutschen Grenze. All diejenigen, die
früher trotz
der traumhaft schönen Bilder eine Reise in den Osten unter
Verweis auf die –
bei Licht betrachtet durchaus nicht unüberwindbaren
– bürokratischen Probleme
verworfen hatten, wollten nun, als es nur noch ein paar Stunden
Autofahrt
bedurft hätte, genauso wenig wie zuvor. Man hatte sich
inzwischen an die Mythen
aus dem Elbsandstein gewöhnt und war zu dem Schluss gekommen,
dass dort außer
blutigen Nasen nichts zu holen ist für Kletterer, die auch
damals schon gewohnt
waren, blinkende Bohrhaken in komfortabler Anzahl zu klinken und
bestenfalls
ein paar Keile oder schicke Friends in Risse zu stopfen, aber gewiss
nicht
irgendwelche dubiosen Knotenschlingen, an deren Haltekräfte
man ohnehin nicht
glaubte. Ende der 80er und Anfang der 90er fuhr man als normaler
Kletterer nach
Südfrankreich, nach Finale, nach Arco, eben mit der
üblichen Verzögerung zu den
Trendsettern dorthin wo der alpine Blätterwald rauschte. Der
innerdeutsche
Osten war schlicht und einfach uncool, ärmlich, nicht
angesagt. Ostdeutschland,
das waren Industriebrachen, verseuchte Böden,
Plattenbausiedlungen und
seltsamer Dialekt, und Klettern in Sachsen war wenn überhaupt
dann nur etwas
für die ganz Verschrobenen.
Es dauerte Jahre bis ich nach einer ersten, ganz kurzen Schnupperfahrt
zu den
sagenumwobenen Sandsteintürmen wieder jemanden
überreden konnte, mit in den
wilden Osten zu kommen. Zu sehr waren die meisten damit zufrieden, ein
paar
Heldengeschichten und Horrorstorys aus erster oder zweiter Hand
erzählen zu
können und eigentlich wollte man ja doch vor allem schwer
klettern und nicht
mit vollen Hosen in lächerlichen Sechsern herumeiern.
Es bedurfte dann letztendlich doch der Einheimischen, um mir die
Wunderwelt des
Elbsandsteins zu erschließen. Der Kontakt war nicht schwer
herzustellen, denn
nirgendwo sonst auf der Welt habe ich Kletterer getroffen, die so offen
und
hilfsbereit auf denjenigen Besucher zugehen, der zumindest den Eindruck
erweckt, als wolle er dort mehr als nur seine eigenen Vorurteile
pflegen. Nun ja,
manchmal ist die Herzlichkeit hinter einer rauen Schale verborgen und
die
Sprachprobleme tun ein Übriges: Wenn ein Sachse dir am
Einstieg Mut macht mit
dem Hinweis „Da oben im Riss liegt eine ringwertige
Schlinge“, dann darf man
sich nicht wundern, rein gar nichts an beschriebener Stelle vorzufinden
– er meinte
natürlich, dass man dort eine solche Schlinge legen kann
– und wenn man in der
falschen Situation das Wort „Spaß“ in den
Mund nimmt, dann kann das schon mal
zu einer verschleißfreudigen Überprüfung
der dahinter stehenden
Klettervorlieben im nächstbesten
überhängenden Schulterriss führen.
Aber davon abgesehen ist Klettern in Sachsen auch jenseits der
berauschend
schönen Felsen und Klettereien eine Offenbarung für
den neugierigen Besucher.
Auch wenn viele Einheimische keine Gelegenheit versäumen,
klarzustellen, dass
das alles früher besser war, ist es nicht zu
übersehen, dass hier nicht zuletzt
durch die zusammenschweißende Realität der
sozialistischen Vergangenheit noch
heute eine Kletterkultur existiert, wo es bei uns in Westdeutschland
nur eine
Kletterszene gibt.
Kultur, da steht es, das Wort, das mir immer wieder einfällt
wenn ich an das
Klettern im Elbsandstein denke. Kultur, das ist diese Mischung aus
menschlicher
Erfindungskraft und Erkenntnis, aus Kunst und Genie, aus Tradition,
Überlieferung und lebendigem Umgang mit dem Erbe. Da schwingt
die Bedeutung von
Kulturlandschaften mit, die Assoziation von biologischen Kulturen, die
nur
gedeihen können unter ganz bestimmten Bedingungen auf ganz
bestimmten
Nährböden. Da geht es um Verbundenheit, um
Zugehörigkeit, um Identifikation mit
einer gemeinsamen Basis. Das sind nun, wie mir auffällt, recht
hochtrabende
Worte für etwas so eigentlich unnützes und
luxuriöses wie die sportliche
Freizeitbetätigung von größtenteils im
Alltag körperlich unterforderten Büromenschen.
Und war nicht die regellose Freiheit, das Abwenden von der
„Mainstream-Kultur“
– auch und gerade der des überkommenen Alpinismus
– eines der prägenden
Elemente der Freikletterbewegung? Nun, vielleicht ist das ja gar kein
so großer
Widerspruch wie es scheint...
An einem lauen Frühlingstag stehe ich wieder einmal auf dem
Schrammtorwächter.
Auf das wunderbarste mischt sich die Vertrautheit des Gipfels und der
Aussicht
mit dem frischen Erlebnis. Diesmal waren es nicht die Legenden um
Perry-Smith,
die mich auf dem Weg begleitet haben sondern die Geschichten um Willy
Häntzschel, um die lange als eines der „letzen
großen Probleme“ umworbene
Nordwand. Die Jahrzehnte haben immer wieder neue „letzte
Probleme“ mit sich
gebracht, und doch ist diese Wand auch heute noch ein Meilenstein
für ein
Klettererleben genauso wie für die Historie des Alpinismus.
Und nun sitze ich
hier, wieder einmal wunschlos glücklich und lasse den Blick
über die
Schrammsteinkette schweifen: Auf fast jedem Gipfel die bunten Punkte
der Kletterer,
die meine Leidenschaft teilen, mit denen ich Verbundenheit
spüre, die nichts
anderes wollen als genau jetzt genau das zu tun: Klettern, in der Sonne
sitzen,
sich freuen. Kein heroischer Alpinismus – der bleibt den
Berichten vom Tage
nachher in der Kneipe vorbehalten. Keine spitzfindigen Debatten
über die
komplizierten Regelwerke des sächsischen Kletterns –
die finden heutzutage im
Internet statt. Kein Gefühl von Fremdbestimmung –
dies hier draußen ist unsere
Welt mit unseren Regeln.
Und genau das ist der Knackpunkt an der ganzen Sache: Kein Spiel macht
Freude
ohne Regeln. Wenn ich beim Fußball jeden umtreten darf wie es
mir beliebt, oder
mir beim Schach eine zweite, dritte und vierte Dame genehmige sobald
ich ins
Schleudern komme, dann versinkt alles im Sumpf der Beliebigkeit. Wenn
ich im
Elbsandstein unter einer Route stehe – oh, pardon, die
heißen hier nicht
„Routen“, weil sie auch nichts mit Routine zu tun
haben sondern sie heißen
„Wege“, weil sie einen nicht nur als Kletterer
voranbringen – wenn ich also
unter einem solchen Weg stehe, dann habe ich eine Aufgabe, die
wunderbar klar
definiert ist: Ich will da hoch, aber ich darf die von Natur und
Erstbegeher
definierte Aufgabe nicht austricksen, darf mir kein Netz oder doppelten
Boden
genehmigen, sondern ich muss vorher wissen was ich tue. Dass ich dabei
aufgrund
der meist doch eher kühnen Absicherung ein gewisses Risiko
einkalkulieren muss,
ist sozusagen das Pfand, das ich hinterlege: Was ich ab jetzt mache,
ist nicht
mehr beliebig und belanglos sondern ein ernsthaftes Spiel. Aber wer
bereit ist,
dieses Mehr an persönlichem Engagement zu investieren, der
darf sich auf eine
umso reichere Ernte freuen. Denn wo nach einem Urlaub am Mittelmeerfels
die
Erinnerungen an sonnige Genussklettereien schneller verschwimmen als
man sie
notieren kann, da bleiben die Eindrücke des Elbsandstein, die
inneren Kämpfe,
die Überwindung, die Angst, die Schwäche und
letztendlich das Gipfelglück oder
der Rückzug ins Gedächtnis eingebrannt. Hier
können wir Kletterer aus der Vergangenheit
lernen, wie die Perspektive für die Zukunft aussehen kann:
Mehr Erlebnis durch
mehr Selbstbeschränkung und weniger Technik.
In einer Welt in der alles immer ähnlicher wird, bin ich
dankbar dafür, dass es
noch Klettergebiete wie dieses gibt, die einen lehren, wie viel mehr
als nur
sportliche Leistungen am Fels zu erleben ist, wie herrlich
algenverschmierte
Kamine sein können, wie anspruchsvoll sandige Rinnen, wie
lustig bewachsene
Bänder, wie spannend brüchige Wände, wie
lehrreich Verhauer, wie befreiend
sicherungsfreies Klettern, wie ruhig kleine Gipfelchen, wie erhaben
stille
Täler, wie erfrischend der Regen auf dem Rückweg, wie
belebend der Duft des
Gesteins, wie beglückend das Lächeln des
Seilpartners, wie denkwürdig die
Abseilfahrt ins Ungewisse. Die Schinderei im Ausstiegskamin am
Falkenstein-Südriss, das vergilbte Papier des uralten
Gipfelbuchs auf dem
Nördlichen Schrammturm, die zerfetzten Hände nach dem
Schwager Talweg, die jede
Phantasie in den Schatten stellenden Strukturen an der Gondakante, das
Fegefeuer aus Angst und Überwindung an der Rostkante, die
Großartigkeit des
Bloßstocks: Allein die paar Jahre
regelmäßiger Elbsandsteinbesuche haben mir
Erinnerungen geschenkt, die über viele trübe
Novembertage hinweg helfen. Und
wenn dann das neue Kletterjahr kommt, werde ich wieder den
Kletterführer wälzen
und neue Pläne schmieden. Es gibt da noch einen Riss, von dem
ich schon immer
geträumt habe – falls ich ihn in der Wirklichkeit
finden kann, dann sicher im
Sandstein an der Elbe...
Helge Kramberger
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