Der Selbstmörder
Wir sind noch ziemliche Neulinge im Fels, als wir uns Anfang der Siebziger
entschließen, den Langen Israel in Rathen zu erobern. Da wir gerade die ersten
Siebenerwege emporgekrampft waren, gab es damals nur eine praktikable Variante:
Sprung. Die Klettersachen brachten wir zunächst unter einen der Brückenbögen.
Siegfried W., ein langer, hagerer Kerl mit etwas traurigem Gesichtsausdruck war
als erster wieder oben auf der Brücke, setzte sich auf einen der Pfeiler und
ließ die Beine talwärts Richtung Israel baumeln. Dies war eine für nicht
schwindelfreie, ängstliche Basteibesucher zugegebener Weise etwas leichtsinnige
Art, hier zu verweilen. Er wirkte immer besonders sentimental, wenn kein Bier in
der Nähe war. Eigentlich wollte er sich aus dieser Position nur überlegen, wie
wir unseren Sprung am besten absichern konnten. Ich kam gerade hinzu, als eine
Frau mittleren Alters Siegfried ansprach: "Was machen Sie denn hier ?"
Siegfried wandte ihr langsam sein Gesicht zu und mit einem Ausdruck tiefster
Verbitterung, aber fester Stimme antwortete er:
"Ich habe es satt. Ich springe jetzt hier runter." Die Frau machte
einen Panthersatz, den man ihr nicht zugetraut hatte, packte Siegfried an den
Schultern und zerrte ihn mit aller Kraft vom Pfeiler auf den rettenden Weg.
Dabei schrie sie: "Das kannst Du doch nicht machen, es hat doch jeder mal
eine Krise!" Siegfried blieb ob seiner Gesäßprellung zunächst sehr
ernst, weil er mit der Rettungstat nicht gerechnet hatte und voll auf dem
Allerwertesten gelandet ist. Ich hingegen begann ein brüllendes Gelächter und
war erst nach ein paar Sekunden in der Lage, die Lebensretterin aufzuklären.
Leider war sie nach unserem erfolgreichen Mutsprung nicht mehr auf der Brücke
zu finden, denn wir hatten weiteren, allerdings medizinischen Beistand bitter nötig.
Jeder hat seine Luftfahrt mit einer Blessur bezahlt: Prellung eines großen
Zehes bei Lutz H., aufgeschürfter Bauch bei Matthias R., beschabtes Kinn bei
Siegfried W., geprelltes Knie bei mir.
Cleo