Und
es begab sich, daß der 40. Tag nach Ostern ins Land zog und daß sich ein Häufchen
bayerischer Unentwegter anschickte, einen der Ihrigen ins Land der Böhmen zu
senden. Kunde sollte er bringen von den Heldentaten, die zu begehen, ein Trupp sächsischer
Ritter alljährlich ins östliche Ostböhmen zog.
Das
Morgengrauen dieses Tages verweilte bis zur mittäglichen Stunde und die Helden
zeigten Spuren des bis weit in die Nacht hineindauernden Kampfes gegen die Köstlichkeiten
böhmischer Brauhäuser und tschechischer Brennereien. Einige der Ritter hatten
so schwer gekämpft, daß es ihnen nicht möglich war, im fahlen Mondlicht ihre
linnene Heimstatt wiederzufinden. Frischdampfende Spuren rund um die unter
freiem Himmel Nächtigenden zeigten, daß die in den Zelten schlafenden
Kameraden von unappetitlichem Malheur verschont worden waren. Auch der Rest des
Lagers wies deutliche Kampfspuren auf und der Herold sah manchen Ritter auf der
Suche nach seinem Zelt und manches Burgfräulein auf der Suche nach ihrem
Ritter. Während der Nacht muß es zu Verwechslungen gekommen sein, die Gerüchten
nach von längerer Dauer waren; manch’ glückliche Beziehung endete und
manch’ glückliche Beziehung begann an diesem Tag.
Fast
wäre dem Chronisten entgangen, daß sich die tapfersten der tapferen Sachsen
gesammelt hatten, um zur Erstürmung einer Burg im benachbarten Wekelsdorf
aufzubrechen. Da der Nebel noch bis tief in die Täler hing, konnte es sich
seiner Meinung nach nur um eine Kundfahrt handeln. „Man darf sich dem Feind
nie ohne Waffen zeigen.“ – diesem Motto folgend, hatten sich die Recken
schwere Säcke umgehängt, darinnen wohl Folterwerkzeug übelster Machart ins
Feindesland transportiert werden sollte. Auch unser Bayer wappnete sich, nicht
um zu kämpfen, sondern um sich äußerlich nicht zu sehr von den Sachsen
abzuheben.
Die
Burg stand wuchtig und uneinnehmbar. Keine Spur von Erosion hatte die Festung je
schwächen können. Wirklich keine? Halt! Vor Millionen von Jahren machte sich
ein wackerer Wassertropfen von der obersten Zinne der Burg, dem Gesetze der
Schwerkraft, welches um die damalige Zeit erfunden wurde, gehorchend, auf seinen
steilen Weg nach unten. Ihm und zahlreichen seiner Gefährten gelang es, ihr
Kampflied „Steter tropfen höhlt den Stein“ auf den Lippen, zunächst eine
Runse, später eine Rinne, schließlich eine Rißspur und zu guter Letzt einen
stattlichen Riß in die glatte Wand zu brechen. Ein bärtiger Sachsenkämpe von
kräftiger, aber gedrungener Gestalt, dem jüngeren Hagen von Tronje nicht unähnlich,
gürtete sich, um über eben diesen Riß die Burg zu erstürmen. Die wildesten
der Jünglinge, die Spuren des nächtlichen Kampfes noch im Gesicht, boten ihre
Begleitung an. Der Rest des Fähnleins, eine bunte Mischung aus erfahrenen Kämpen
und kindlichen Raufbolden, deren Ritterschlag erst noch bevorstand und eben auch
der Schreiber dieser Zeilen, zogen sich zurück in sichere Gefilde, um aus
gemessener Entfernung und ohne Risiko für den eigenen Körper und die eigene
Ehre dem Schauspiel beizuwohnen.
Der
Tronjer machte sich daran, den ersten Ring und damit die erste Oase der Ruhe und
Sicherheit hangelnderweise zu erobern. Raunen im Felde der Zurückgebliebenen ob
dieser unsächsischen Kampfesweise. „Risse bezwingt man in Rißtechnik“, so
die einheitliche Meinung der Bodenmannschaft. Unser Herold stand staunend und
verstand von alledem nichts. Ermattet sank der Bärtige in den ersten Ring und
sofort erschwoll das Raunen zu einem Murren. „Rotpunkt! Den Riß macht man
Rotpunkt“ flüsterte einer der erfahrenen Recken dem verwirrten Bayern zu.
Ohne wirklich zu verstehen, nickte dieser zustimmend. Jede der Bewegungen des bärtigen
Helden wurde vom Tale aus kommentiert. Seine Taten aus vergangenen Tagen und in
anderen Arenen gerühmt. Dieser schickte sich an, den vierten Ring anzugehen.
Der Berichterstatter wollte gerade beginnen, die raffinierte Eroberungstaktik
des Kämpfenden zu lobpreisen, da ein Sturm der Entrüstung die Wartenden
durchbrauste. Noch nie hatte es ein Sachse gewagt, vor derart vielen Tatzeugen
einen Ring mittels einer geschickt geschleuderten Bandschlinge einzufangen. Die
älteren Helden griffen unwillkürlich zu den Waffen. Gleich einem unwirklichen
Ballett wurde Beine gehoben und Füße verdreht, Arme angewinkelt und ineinander
gewunden, Hände zu Fäusten geballt und Finger gespreizt. Wild gestikulierend
wie Moriskentänzer demonstrierte jeder jedem, wie diese Stelle zu bewältigen
sei. Einfache Handrißtechnik im tiefen Inneren des Risses oder Doppelhand- und
Faustrißtechnik unterstützt durch Knieeinsatz an seinem äußern Rand. Handgrößen,
Arm- und Körperlängen wurden miteinander verglichen, um die Wirksamkeit der
vorgeschlagenen Techniken zu belegen.
Der
Bärtige befreite sich hangelnd aus der Fessel des vierten Ringes. In gespannter
Ruhe harrte die Bodenmannschaft der Dinge, die da kommen sollten. Nur ein
ungemein wuchtiger Ritter prophezeite mit der Sicherheit eines Merlin, daß die
Zeit gereift sei, da der vierte Ring auf seine Festigkeit getestet werden würde.
Und er sollte Recht behalten.
Endlich
griffen die Götter ein. Um dem Helden Gelegenheit zu einem ehrenvollen Rückzug
zu geben, öffnete Odin des Himmels Schleusen. Viele der Gefährten ergriffen
die Flucht. Allein der Bärtige und der treueste seiner Kampfesbrüder trotzten
den Fluten, der Kälte und der Einsamkeit – lange viereinviertel Stunden. Nun
hielt es den ältesten und erfahrensten Kämpen nicht mehr am Boden, wußte er
doch sein eigen Fleisch und Blut in der Wand. Wie weiland Jungsiegfried gegen
Fafnir eilte, ja flog der Held das Gemäuer empor. Wie Äxte zerteilten seine
Pranken den Fels, wie Spaltkeile schossen die Stiefel in den Riß. Nie habe ich
dergleichen gesehen. Den vereinten Kräften mußte sich der fünfte Ring bald
ergeben. Zufrieden kehrte der Alte zurück zu den Wartenden, sich der Tatsache
bewußt, daß er den Grundstein zum Sieg gelegt hatte – darauf vertrauend, daß
seine Hilfe nun nicht mehr benötigt werden würde.
Doch
noch einmal mußte der Alte eingreifen. Nachdem der Bärtige und sein junger Gefährte
den Gipfel erklommen hatten – nach hartem Kampf – hob ein heftiger Disput
auf der Zinnen Höhe an, mit welchen Worten der Feldzug im Pergament des ehernen
Gipfelschatzkästleins darzustellen sei. Ein letztes Mal eilte der Alte auf den
Gipfel, um als Zeremonienmeister das Ritual des Gipfelbucheintrags zu betreuen.
Der
Chronist stand und staunte, nickte, ohne angesprochen zu sein und verstand –
nichts.
Rudi Rotrüssel