Ochelwände - Teil 1
Ganz nah und
leicht zugänglich sind zwei schöne Gipfel, der
Lärmchenturm und der
Michaelistagstein, gleich neben oder, sogar genauer gesagt unter der
wunderbaren
Aussicht. Theoretisch kann man beide in fünf Minuten
besteigen. Den
Lärmchenturm mit einem Sprung. Am besten dabei ein Seil, das
noch in der am
Massiv angebrachten Sicherungsöse hängt, mitnehmen
und dann zurück springen.
Und danach den Michaelistagstein. Da stellst du einfach einen knapp
Zweimeterbergfreund als Überfallbaumann in die Scharte und
läufst hoch. Na gut,
dann ist es noch VIIIa, aber eben kurz, sehr kurz, ein
kürzester Aufstieg. Das
schönste ist dann das Ausklingen eines Klettertages auf der
Bank, die auf der
Aussicht steht. Dein Blick schweift über fast die ganze
Sächsische Schweiz, bei
gutem Wetter bis ins Osterzgebirge. Rechts und links der Aussicht sind
tiefe
wilde Schlüchte, die mich immer an romantische tiefsinnige
Bilder von Caspar
David Friedrich erinnern. Und du bleibst, bis die Sonne über
der Brandaussicht
unter geht.
In solchen
Momenten erinnerst du dich gern an alte Zeiten, an große
Taten, erinnere ich
mich an den Ochelweg:
Ich zitiere
aus dem Mitteilungsblatt des Deutschen Verbandes für Wandern,
Bergsteigen und
Orientierungslauf, Heft 1 – Januar 1983
Jahre
schöpferischer Eigeninitiative verhalfen uns zu einer
Berghütte und einem neues
Klettergebiet, dem Brand, genauer den Ochelwänden. Das war
nicht so einfach!
Das Brandgebiet ist bei vielen sächsischen Kletterern
beiweiten nicht das
beliebteste Kletterziel. Es
gibt schwere
Risse, da fühlt man sich einen ganzen Schwierigkeitsgrad
unterbewertet und es
gibt Reibungen, die bei Trockenperioden
bequeme Treppen sind, die jedoch zu normalen Zeiten als das Letzte im Fels
bezeichnet werden
müssen. Aber ich bin schon in einigen Klettergebieten heimisch
geworden, die
mir anfangs nicht so lagen. Man muss nur den Fels lange genug fühlen, oft genug
klettern, dann stellt sich
die gewohnte Vertrautheit ein. So war es auch hier. Ich kenne nun viele
Gipfel
und Wege, die mir Freude und Erfüllung gegeben haben und bei
denen der
Wahlspruch meines Bergfreundes Lothar zutrifft: Ein schöner
Kletterweg muss
großen Greif und Tret besitzen, gut gesichert sein und einen
hohen
Schwierigkeitsgrad haben!
Sehr oft war
ich am Michaelistagstein. Nicht nur Klettern, auch einfach ins Land
schauen.
Viele Male sah ich nach getanem Hüttenbau dort der hinter der
Brandaussicht versinkenden
Sonne zu. Und die Wände des Michaelistagstein wurden durch das
sehen
freundlicher und boten Möglichkeiten, die dem
flüchtigen Betrachter nicht in
den Sinn gekommen wären. So reifte allmählich der
Plan, die westliche Talseite
des Felsens als Erster zu durchsteigen.. Durch die Lage des Felsens
– kurze
Schartenseite zum Massiv und hohe Talseite – boten sich zwei
Möglichkeiten an:
Quergang aus der Scharte zur Talseite, dort zum Gipfel und direkt aus
der
Talseite. Ich wollte zunächst den ersteren der beiden
möglichen Wege versuchen.
Ende Mai 1979
stand ich zum ersten Mal mit Eberhard am Einstieg. Das ist ein
eigenartiges
Gefühl, wenn man mit dem ganzen Klettermaterial behangen, also
Schlingen,
Karabiner, Hammer und Kronbohrer, sich in Neuland begibt.. Gleich der
erste
Schritt ist nicht leicht, nicht das Übertreten vom Vorblock,
aber das
Heranziehen selbst. Ich beginne den Quergang
gefühlsmäßig sehr tief. Da ist
nicht viel drin, mit dem vorher die Tritt- und Grifffolge genau
ansehen. Die
Unebenheiten sind oft sehr klein, man muss es einfach probieren. Nach
wenigen
Metern Quergang muss ich den Schritt zum ein Meter höheren
Band wagen. Ich
stehe am Beginn einer angedeuteten Rinne. Immer wieder setze ich an und
zögere.
Erst das Legen des Sackstichknotens meiner dünnsten Schlinge
in einem
Fingerloch gibt mir das nötige Selbstvertrauen. Dann stehe ich
auf dem höheren
Band. Nun fehlen mir noch drei Meter zu einem Felseinschnitt, wo der
Ring hin
muss. Das Band ist gut, es ist jedoch kein Ruheplatz. Weiter rechts
werden die
Griffe besser, aber dort drückt der Fels nach außen.
Doch der Zug gelingt, ich
bin am Einschnitt und
beginne sofort mit
den Vorbereitungen für das Ringe setzen. Eine Hand habe ich
für den Kronbohrer
bequem frei. Aber nach fünf Minuten ist das Ringloch zwei
Zentimeter tief und
mir wird klar, dass ich so bald herunterfalle. Eine waagerecht zu
belastende
Knotenschlinge rettet mich im letzten Moment. Mit Hilfe dieser Schlinge
habe
ich eine Stunde später den Ring an der richtigen Stelle, aber
die Kraft ist
weg.
Eine Woche
später mache ich mit Ralf den nächsten Versuch. Ralf
ist Anfänger, aber Mut und
Einsatzwille befähigen ihn zu großen Taten. Wieder
erreiche ich unter großen
Anstrengungen den Ring. Mit etwas Seilhilfe ist Ralf bald bei mir und
sichert
mich für den Weiterweg. Der ist noch völlig offen.
Das geradeaus sehr schwer
aussieht, versuche ich es rechts. Nach fünf Meter Quergang bin
ich aber in
Bernd Arnolds „Neuen Talweg“ und das
gefällt uns nicht. Also doch gerade hoch!
Nach vielem Probieren weiß ich Griff- und Trittfolge. Richtig
ausgeruht gehe
ich den Überhang mit Überlegung und großem
Willen an und stehe gleich darauf
sehr glücklich auf einem kleinen Reibungstritt im schon
geneigten Fels. Nun
fehlen mir noch drei Meter bis zum leichteren Gelände, ich
kann das Ziel gut
sehen. Und doch vergehen gut 15 Minuten, ehe ich den nächsten
Reibungszug wage.
Ja, der Erstbegeher hat es nicht leicht. Aber groß ist die
Freude auf dem
Gipfel: Der „Waitzdorfer Weg“ (VIIc) hat seine
erste Begehung.
Mitte Juli stehen
wir wieder am Michaelistagstein, aber diesmal in der Talseite und alles
scheint
klar zu sein: In halber Wandhöhe steckt schon der Ring (Ralf
sicherte mich vor
ein paar Tagen von unten in einer stillen, beinahe ungenutzt
verstrichenen
Abendstunde), der Ausstieg ist der des Waitzdorfer Weges ab dessen Ring
und mit
mir sind bewährte Bergkameraden aus Dresden, Ebi und Karli.
Auch diesmal hatte
ich erst allerhand Sportfreunde meiner Sektion zur Teilnahme
eingeladen, aber
es war kein begeisterter Ralf dabei und nicht einmal die Aussicht auf
eine
kostenlose Flugwoche des Vorsteigers konnte sie umstimmen. Es gibt aber
auch
ein paar schöne Unklarheiten: Die Wand vom ersten zum zweiten
Ring und das
Wetter. Ganz ungewöhnlich zu dieser Jahreszeit
ist es nun kalt und windig, ja stürmisch
geworden. Es ist so dunkel,
dass man das Losbrechen eines Unwetters jeden Moment
befürchtet. Aber ich nehme
es hier vorweg: Das Wetter hält aus bis zum Gipfel und auch
die steile
unbekannte Wandzone erweist sich als freundlich. Es wird ein Weg der
Superlative für Genußkletterer. Erst steigst du den
Kamin in der Talseite bis
zu dem rechts beginnenden Handriss hoch und legst noch eine ganz
sichere
Knotenschlinge. Das gibt die nötige Sicherheit für
den nicht ganz leichten
Riss, der bis zum Ring noch durch weitere Schlingen gut gesichert ist.
Dann am
Ring bist du schön draußen an der Kante und hast den
Brand, ja die ganze
Schweiz unter dir. Du bist allein in dieser mächtigen Felswand
hoch über dem
tiefen Grund und sogar deinen Nachsteiger kannst du nur hören,
er ist nicht zu
sehen unter dem riesigen Blätterdach der alten Buche da unten.
Später nimmst du
vom Nachsteiger am ersten Ring gesichert den Weg zum zweiten Ring in
Angriff:
Geh nur ein, zwei Meter nach rechts, dort sind Riesengriffe,
schöner geht’s
nicht. Aber sei vorsichtig, belaste gut den Fels und nicht die
Sicherungskette
durch eine Flugphase. Am zweiten Ring hast du den Weg theoretisch in
der
Tasche. Nun kann eigentlich nichts mehr passieren, der Waitzdorfer Weg
folgt
wie gehabt. Alle Griffe am Überhang sind klein und eisenfest
und die Schlingen
kannst du beruhigt zurücklassen, auf den paar Metern gibt es
nichts mehr zu
legen. Aber so viel sei verraten: Der Ausstieg ist die Würze
des Weges, die
Krönung des Ganzen, mehr nicht!
Also, liebe
Bergkameraden, wenn ihr einen Weg machen wollt, auf den der Wahlspruch
meines
Bergfreundes Lothar zutrifft, dann ran an den
„Ochelweg“! Und wenn ihr dann auf
dem Gipfel sagen solltet, dass sich das Anstellen am Einstieg gelohnt
hat, bin
ich schon zufrieden.
Nachbemerkung
des Autors:
Ein sehr
merkwürdiger Text! Das soll ich vor 30 Jahren erlebt und
geschrieben haben? Da
war ich echt noch jung, engstirnig, klettergeil, ehrgeizig und ein
bisschen
lebensmüde. Ich war mal wieder dort, und am meisten hat mich
der altersgerechte
leichte Zugang, die wunderbare Aussicht, das mahnende Gedenkkreuz und
die nahe
Gaststätte mit den besten Bratkartoffeln der Welt beeindruckt.
Klettern tu ich
jetzt viel in meiner zweiten Gohrischer Heimat, wo alles noch besser
gesichert
ist und ich mein geliebtes Klettern nach dem Wahlspruch „Nur
ein alter
Bergsteiger ist ein guter Bergsteiger“ (o.s.ä.)
auslebe. Und inzwischen soll
der Ochelweg auch gar nicht mehr so gut gesichert sein. Aber ich habe
diese
Zeilen gern geschrieben, sind mir dadurch auch wieder viele gute
erlebnisreiche
Stunden in den Ochelwänden in Erinnerung gekommen, u.a. auch
ein paar Fotos aus
diesen wilden Zeiten.
Erstbegehung des Waitzdorfer Weges am 7. Juli 1979
Erhard
Klingner