Das
Leichentuch
Mitte
Januar war
es wieder einmal so weit. Mit Günter, Heinz und mir stiegen
drei Cluboldies
ächzend und schwitzend durch den verschneiten Schmilkaer
Forst.
Die
Stille des Waldes umfing uns mit ihrem Zauber und der Schnee
dämpfte unsere
Schritte. Die Anstrengung des Bergaufgehens lies schon bald auch unsere
Stimmen
verstummen.
Märchenhaft
bogen sich die Bäume unter der Schneelast zu
natürlichen Schwibbögen. Raureif
glitzerte wie Lametta an den Zweigen und ganze Kaskaden von
schillernden
Eiszapfen an den Felsüberhängen vermittelten das
Gefühl durch eine Märchenwelt
zu schreiten. Schon bald hatten wir den Kleinen Winterberg erreicht und
wenig
später die Obere Affensteinpromenade. Jetzt war unsere ganze
Aufmerksamkeit
gefragt, um nicht irgendwo auf eisigem Untergrund auszugleiten. Unsere
alten
Knochen konnten uns schon den geringsten Sturz übelnehmen und
gegebenenfalls
mit einem Oberschenkelhalsbruch bestrafen. In Gedanken sah ich schon
die
Chirurgen das Messer wetzen und die Gipsvorräte kontrollieren.
Auf jeden Fall
waren wir potentielle Anwärter auf ein Krankenhausbett, wenn
wir das bisherige
Tempo beibehielten. Also legten wir in der Idagrotte des Vorderen
Raubschlosses
erst einmal eine Pause ein, um uns zu stärken. Zu meiner
Überraschung holte
Heinz einen Kocher aus seinem Rucksack und Günter eine
übrig gebliebene
Glühweinpackung mit abgelaufenem Verfallsdatum; also zu uns
passend. Dazu
gereichter Spekulatius lies trotz des späten Januartages
durchaus noch einmal
weihnachtliche Stimmung aufkommen.
So
gestärkt ging es schon bald in Richtung Carolafelsen und durch
die eisigen Rinnen der Wilden Hölle,
erstaunlicherweise noch immer ohne Knochenbruch, nach unten.
Wenn
wir uns ein Bett im Spital sichern wollten, mussten wir also das Risiko
erhöhen
und noch steileres Gelände aufsuchen. So beschlossen wir durch
den Großen Dom
wieder aufwärts zu steigen, zumal Jürgen berichtet
hatte, dass der Jahrzehnte
lang gesperrte Aufstieg durch das Anbringen einer Kette wieder begehbar
wäre.
Bald
hatten wir die großen Schichthöhlen des Doms
erreicht und stiegen im hintersten
Grund weiter aufwärts. Alte Treppen und schmale
Felsbänder führten unter
mächtigen Steilwänden immer höher und durch
das ständige Queren taten sich
schon bald unter uns Abgründe auf, die jedwedes Ausgleiten
verboten. Endlich
erreichten wir hinter einer Felsecke die große
Reibungsplatte, deren einstiger
Humusbelag sich schon in den 70iger Jahren des vergangenen Jahrhunderts
nach
unter verabschiedet hatte, um den Aufstieg unpassierbar zu machen.
Jetzt
blinkte uns verlockend die neu installierte Kette entgegen und lies
für einen
Moment vergessen, dass unter der Schneeschicht auf dem Steilfels
blankes
Wassereis war.
Beim
zweiten Hinschauen stellten wir verblüfft fest, dass
man den Beginn der Kette von unten her,
keinesfalls ohne Risiko erreichen konnte. Auf jeden Fall mussten wir
getreu dem
Motto: „Wenn es dem Esel zu wohl wird ...“ aufs Eis
und die dünne Schneeschicht
betreten, die sich wie ein Leichentuch, in kaltem Weiß
über die Reibung gelegt
hatte. Hoffentlich war dieser Vergleich, der mir unwillkürlich
einfiel, kein
böses Omen.
Nichts
von meinen Gedanken ahnend ging Günter voran, hatte aber alle
Hände voll zu
tun, um die Aufgabe zu meistern. Weit
spreizend und seine Affenarme voll ausfahrend, erreichte er
schließlich
aufatmend die Kette. Heinz und ich wussten sofort, dass wir Probleme
haben
würden.
Auf
Blankeis stehend sah Günter auch nicht sonderlich entspannt
aus, obwohl die
Sache für ihn gelaufen schien. Dennoch ließ er nun
eine Hand los, um sie
hilfreich Heinz zu reichen, der um Hilfe heischend zu ihm aufsah.
Abwartend
stand ich etwa drei Meter darunter, hinter mir den dräuenden
Abgrund. Beinahe
hatte es auch Heinz geschafft. Doch dann rutschte er
urplötzlich mit beiden
Beinen weg ... und riss auch Günter aus dem Stand. Zwei alte
Säcke an einer
Hand ... das konnte nicht gut gehen. Das
Lösen der gichtigen Finger war vorprogrammiert. Und schon
kamen sie wie zwei
Maikäfer im Rückenflug über die Platte
geschossen - meinen Namen schreiend, in
der Hoffnung dass ich sie halten würde.
Das
ging so schnell, dass ich gar nicht in der Lage gewesen wäre
zur Seite zu
springen. Also versuchte ich sie zu halten, ohne selbst den Halt zu
verlieren,
was auch gelang. Stöhnend sortierten sie ihre Gebeine und
horchten in sich
hinein, um festzustellen was alles wehtun würde. Aber die
Schmerzen kamen erst
später, jetzt herrschte noch ein Überschuss an
Adrenalin.
„Hahnemann
geh du voran“, meinte Günter, und schon strebte ich
in Richtung Kette. Die
Freunde waren sich sicher, dass ich sie erreichen würde. Aber
ich rutschte
schon weg, ehe ich nach ihr greifen konnte. Ein heißer
Schmerz durchfuhr meine
Hüfte als ich seitlich aufs Eis krachte und mit dem Kopf voran
in Richtung
Abgrund raste, ... in die Fangarme der Freunde. Da war für
mich Schluss mit
lustig und ich drängte die Kameraden zum Abbruch des
Unternehmens. Allerdings
hatte ich nicht mit Günters Ehrgeiz gerechnet, der unbedingt
noch einen Versuch
starten wollte. Vielleicht war es Altersstarrsinn, aber erfolgreich.
Erneut
erreichte er die Sicherungskette. Dieses Mal fuhr er mit dem Arm
dahinter, um
sie mit der Armbeuge zu halten. Inzwischen hatte ich eine
abgesägte Birke zu
mir gezogen, die am oberen Ende der Kette abgesägt wurden war,
ohne dabei zu
bedenken, dass der verbliebene Stumpf, den man jetzt haltsuchend
ansteuern
musste, nun bald absterben und morsch werden würde. Aber egal,
ich hatte die Birke,
der es zum letzten Mal bestimmt sein sollte nützlich zu sein.
Mit Hilfe von
Heinz gelang es mir das Bäumchen zu Günter zu
schieben, der mit links unter der
Kette verhakt, mit rechts den Stamm halten konnte. Die Zweige der Birke
lagen
wie ein Rutenbesen auf dem eisigen Untergrund und ermöglichten
es uns
ungefährdet zu Günter zu laufen. So schlossen wir
beide zu ihm auf, während er
schmerzverzerrt auf seine Arme schaute, die im Verlaufe der Aktion noch
länger
geworden waren, so dass seine Hände nun neben den Kniekehlen
hingen. Einer nach
dem anderen erreichten wir nun, uns ängstlich an die Kette
klammernd deren
oberes Ende und hechteten an den abgesägten Stumpf unseres
hilfreichen Baumes.
Trotz der offensichtlich unten wie oben zu kurzen Kette
hatten wir das Leichentuch unter uns gelassen und überlebt.

Endlich
konnten wir wieder die winterliche Pracht des Waldes um uns
genießen, aber mit
einem Mal erschien sie uns nicht mehr so zauberhaft. Die
überstandene Angst saß
noch in unseren Augen, und ließ die
bizarr gebogenen Bäume und das Eis ringsumher weniger
glitzern.
Fotos:
Heinz Eckardt
Peter
Hähnel
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