Ein dürrer Hahn im „Hentzschelriß“
Wir schreiben den Herbstmonat
November. Vom Rauschengrund her sind wir zu den „Falknern“ gekommen. Die
Luft ist naßkalt und feuchtet unmerklich Fels und Sachen. Während Thomas im
Hentzschelriß auf den Kleinen Falkner steigt, umfängt uns mehr und mehr die Kälte;
kriecht förmlich in unsere Kleidung. Jeder versucht ihr irgendwie zu entkommen.
Marion hüpft als Hampelmann unter der Wand herum, Günter umkreist unermüdlich
die Wände. Michael bereitet sich auf den Nachstieg vor und ich bin zum Sichern
verurteilt. Akute Kniebeschwerden lassen ein weiteres mittun heute nicht zu und
verweisen deutlich auf den Umstand des Alterns. Aber die Gedanken sind jung und
erinnern an eigene Begehungen dieses Risses, vor allem aber an einen Tag vor über
40 Jahren, als ich der Sache noch nicht gewachsen war. Damals knapp 20 jährig,
wog ich bei einer Größe von 1,76m gerade mal 60kg. Ein halber Hahn also - oder
meinem Namen gerecht werdend... ein „dürrer Hähnel“.. Heute kann ich nicht
mehr genau sagen warum ich damals am 2. Ring umkehren wollte - oder wollte ich
das gar nicht?
Auf alle Fälle
hatte ich so wenig Überblick, daß ich den Riß nach dem 1.Ring anhangelte und
mich dann verkehrt herum hinein drehte. Dadurch hatte ich schließlich den
2.Ring im Rücken und konnte ihn nicht einhängen. Jeder vernünftige Mensch hätte
versucht ein wenig abzusteigen und sich doch noch zu drehen, zumal ein
eventueller Sturz dann kürzer geworden wäre. Aber wann wäre ich jemals vernünftig
gewesen? Halb verdreht versuchte ich nach dem Ring hinter mir zu fassen und als
dies annähernd gelang, plante ich abzuseilen. Wenn das Seil erst einmal im Ring
hing, wollte ich mich mit dessen Hilfe drehen und in Sitzschlinge und Abseile
steigen. Also, den Ring im Rücken, begann ich mich vorsichtig auszubinden. Das
war nicht einfach, da wir uns zu jener Zeit noch ins Seil einbanden und keine
Klettergürtel kannten. Irgendwie gelang es mir die Einbinde zu lösen. Dann
versuchte ich wieder meine halbe Drehung, um das Seil in den Ring zu fädeln.
Ein vorheriges klinken der Sitzschlinge ging nicht, denn das war damals eine
12-er Knotenschlinge mit festgesessenem Knoten, die man lose über der Schulter
trug..., und keine schon am Gurt befestigte Angstschlinge. Nicht mehr
nachvollziehen kann ich indessen, wieso ich nicht das Seil einklinkte, um mich
gesichert zu drehen. Vielmehr band ich mich also aus, um nun völlig ungesichert
das Seil hinter meinem Rücken durch den Ring zu ziehen. Was kommen mußte
geschah. Es fiel mir aus der Hand... und verabschiedete sich mit fröhlichen
Pfeifen - durch den Aufschrei der Gefährten begleitet - nach unten. Als die
Kameraden wieder nach oben sahen... erstarrten sie in der Bewegung. Denn dort,
wo ich eben noch gehangen hatte, war niemand mehr. Die Angst hatte mich so weit
in den Riß getrieben, daß ich auf den ersten Blick nicht mehr zu sehen war.
Erst nach einiger Zeit schob sich mein Arm - das Seil fordernd- aus dem engen
Spalt. Irgendwer brachte es schließlich fertig von einem Band aus, nach
endlosen Versuchen, mir das Seil zuzuwerfen. Warum dies nicht von oben geschah,
weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich hätte es zu lange gedauert... oder
es traute sich keiner hinauf. Jedenfalls hatte ich mich in meiner Not nun doch
gedreht, fädelte das Seil ein und konnte abseilen. An eine Fortsetzung des
Aufstieges war moralisch nicht mehr zu denken und es fehlte wohl auch das Können.
Seit jener Zeit ging das Gerücht, der Hähnel wäre so spindeldürr, daß er
Faust- und Schulterrisse durchaus als Kamin klettern könne.. Nie wieder bin ich
an den Falknern vorbei gekommen, ohne dieses Bild zu sehen; das Bild eines
Kletterers, der mit verzerrter Fratze nicht in den Riß hinein - sondern heraus
stiert, nebst einem Arm – nach dem die Freunde Lasso werfen. Während Thomas
und Michael den Gipfel erreichen, habe ich auch heute diese ganze Story noch
einmal nacherlebt. Nur, daß mir die Knie nicht vom Sandstein schmerzen, sondern
vom Kalk zwischen den Gelenken.
Peter Hähnel