Gewissen in Aufruhr
Es ist ein schöner DDR-Sommertag, warm, FDJ-Hemd-blauer Himmel, Ort des
Geschehens Schmilka, genauer gesagt der "Muschelkopf". Wir sind mit
dem Bewältigen des Gipfelkopfes beschäftigt, als laute Stimmen das Nahen einer
großen Zahl von Bürgern ankündigen. Dazwischen fremde, aber irgend wie aus
der Schule vertaute Wortfetzen. Eine Sprache, die wir nicht sonderlich mochten,
aber trotzdem erlernen sollten. Werner brachte es auf den Punkt: "Da sind
Russen dabei !" Als die Gruppe in unser Blickfeld geriet, staunten wir.
Einige Leute waren für diese Felslandschaft eher untypisch gekleidet, mit
Schlips und Kragen. Irgend welche Parteigenossen unternahmen also eine Ausflug
mit ihren oder unseren sowjetischen Freunden, soviel stand fest. Unten machte
die Delegation es sich bequem und begann ein üppiges Mahl. Ich stand in dieser
Zeit bei meinen Kletterkameraden im Verruf, immer besonder wenig Essen für den
Tag im Rucksack mitzuführen. In der Regel waren es ein paar Kekse, weil man die
nicht mit Butter und Wurst belegen mußte und ein Apfel, weil es Bananen nicht
gab und die mir auch heute noch nicht besser schmecken. Natürlich hatten meine
Freunde Recht und ich danke ihnen noch immer dafür, dass sie stets so viel
Essen mit hatten, dass auch ich gut über den Tag kam. Da mir auf dem Gipfel
wieder einmal ziemlich der Magen knurrte, blickte ich besonders häufig
hinunter, wo das "Diplomatenessen" in vollem Gange war. Als Mitglied
der DSF (ja, auch ich war Mitglied einer kommunistischen Organisation) und
Hungerleidender begann ich vom Gipfel aus die Delegation mit sicherlich recht
dummen Sprüchen zu belegen und es entspann sich ein lustiger Dialog. Ich hatte
im Nachgang betrachtet übrigens nicht den Eindruck, dass uns irgend ein
Stasi-Mitarbeiter dabei besonders beobachtete. Wenn, dann muss es ein ziemlich
cleverer Bursche gewesen sein, denn wir sahen bei niemandem ein Spulentonband
oder Scherenfernrohr und es schrieb auch keiner mit. Auch beschäftigte uns
dieses Thema damals weit weniger, als uns manche Leute heute Glauben machen
wollen. Nachdem wir ideologiefrei Auskunft über Seile, Ringe und Karabiner
gegeben hatten, sonnten wir uns noch eine ganze Weile auf dem Gipfel. Als wir
abseilten, war unten Ruhe eingezogen und die vollgefressene Delegation offenbar
weitermarschiert. Nach einer Weile kam ich zu unseren Rucksäcken und freute
mich schon diebisch auf meinen letzten "Hansa-Keks". Ich blieb wie
angewurzelt stehen. Neben unseren Sachen war ein schöner Ring von Farnzweigen
ausgelegt. Dazwischen lagen Hackepeterbrötchen, vier komplette Broiler, schön
braun gebraten und vier Flaschen Rotwein. Mein Herz raste und nur meiner Noch-Nüchternheit
war es zu verdanken, dass ich nicht laut in`s Tal brüllte: "Es lebe die
SED, es lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft!" Wir waren gerade zu
viert. Ich hatte zwar als erster das Essen entdeckt aber es war für mich
Ehrensache, mit den anderen zu teilen, wenn sie schon sonst immer so nett für
mich sorgten. Kurzum, sowohl das Essen, als auch der Wein wurden alle. Fünfunddreißig
Grad Celsius und eine Pulle Rotwein pro Mann. Die Wirkung war verheerend. Was
vorhin noch gehemmt war, brach nun mit voller Wucht durch. Wir wankten
kommunistische Kampflieder singend, deren Texte wir schon Stunden später wieder
nicht mehr wußten die "Heilige Stiege", die übrigens auch in der
DDR-Zeit ihren Namen behalten hat, hinunter.
Heute, Jahre nach der "Wende", zermürbt mich die Frage: Haben
wir uns durch dieses Verhalten nicht zu Vasallen des kommunistischen
Unrechtsstaates gemacht ? Haben wir dadurch überhaupt noch das Recht
Bestandteil des abgeschafften demografischen Faktors für die Rentenberechnung
in der Bundesrepublik Deutschland zu sein. Quälende Fragen, wegen eines
schlimmen Fehlverhaltens.
Worterklärungen:
SED, FDJ, DSF = Partei und Massenorganisationen, an deren Mitgliedschaft
sich viele Ostdeutsche heute nicht mehr erinnern.
Hansa-Kekse = Gebäck, dass deutlich besser schmeckt, als die Kekse, die
sie wettbewerbslos aus den Regalen der ostdeutschen Supermärkte verdrängten
Broiler = Brathähnchen, von Leuten, die ihre Heimatsprache vergessen
haben heute auch im Osten als "Brathendl" bezeichnet, weil man sich
dabei besser die Zunge einklemmt und letzterer Begriff aus dem Westen stammt,
also richtig ist.
Cleo