Das alte Seil
Soeben sind wir mit einer Besteigung der FKV-Kante des Talwächters fertig. Meine Leute sind mit der Vertilgung ihres Mittagsbrotes beschäftigt und reißen allerhand Witze über die Fehler, die bei der vollbrachten Kletterei von den Teilnehmern gemacht wurden. Ich liege im Schatten der Höhle und grüble über vergangene Zeiten ....
„Ausrüstungs-Gegenstände
für Berg- und Wintersport“, so lautet der Titel des Geschäfts aus dem mich
eines Tages ein junges Menschenkind nach langem Feilschen mit dem Inhaber
wegholte, um mich endlich meinem eigentlichen Zweck zuzuführen.
In
seinem Stübchen angekommen, warteten dort schon an 10 junge Männer, die bei
meinem Anblick in ein ohrenbetäubendes Geheul der Freude ausbrachten. Ich wurde
aufgewickelt und dann begann die „ärztliche“ Untersuchung, bei der jeder
Zoll meines 40 Meter langen und 16 Millimeter starken geflochtenen Leibes genau
geprüft wurde und die mit dem Resultat „Gut“ endete. Nachdem ich wieder schön
zusammengewickelt worden war, wurde ich auf den Tisch gelegt und bemerkte von
dieser hohen Stelle, wie zwei der Jungen sich an einem Faß zu schaffen machten,
welches jenes köstliche Naß beherbergte, das nach allzu starkem Genuß den
sogenannten Rasch hinterlässt. Bald waren alle vom Klub vollzählig versammelt,
und ich hörte zu meinem Erstaunen, dass hier anlässlich meines
„Amtsantritts“ ein fröhliches Zusammensein, mir zur Ehre „Seilweihe“
genannt, stattfinden sollte.
Eine
unbändige Freude erfasste mich, als mein jetziger Herr die Seilrede schwang.
Aus dieser Rede wurde mir klar, dass diese Leute mir ein großes Vertrauen
entgegenbrachten und ich wiederum eine große Verantwortung übernahm. Ich
gelobte mir deshalb, alle Kräfte zusammenzunehmen, damit diesem lustigen
Volkchen kein Missgeschick widerfahre.
Seit
diesem Abend sind etliche Jahre ins Land gegangen. Von meiner Zunft sind noch
drei Genossen dazugekommen, die mit mir gemeinsam allsonntäglich den schweren
Dienst verrichteten. Ich selbst bin alt und morsch geworden. Manch schöne
Gipfelstunde war mir vergönnt, mach schwere Kletterei wurde mit meiner Hilfe
durchgeführt. Hei, wie lachte mein Herz, wenn der helle Jodler meines Herrn von
den Wänden widerhallte, oder wenn alle auf dem Gipfel saßen und der Klettergruß
vielstimmig zu Tal brauste.
Mein
Herr ist nicht undankbar wie seine Freunde, die ihn abraten, sich bei schweren
Besteigungen auf meine wenigen Kräfte, die ich noch besitze, zu verlassen. Bin
ich auch unzählige Male geflickt und auch ziemlich einen Meter länger
geworden, trotzdem fühle ich mich noch nicht zu alt
Einst
aber wird der Tag kommen, an dem ich vielleicht einen Ehrenplatz an der Wand des
Klubzimmers erhalte, oder man wird mich zerstückeln und als Seilschlingen
weiter von Fels zu Fels schleppen, bis ich vollständig aufgedrieselt in die
Ecke geworfen werde.
Doch
wozu dieses Grübeln—Hart werde ich angefasst. „Ver...lange Wand...“ höre
ich noch, dann verschwinde ich im Rucksack. Vexierturm – Weinertwand -
mein Herz lacht.
Herbert
Kreische (FKR) Juni 1924