Rudi aus Freital
Freitag, 11. Juni 1982.
Mit Alti hängen wir am
Falkenstein an der Direkten Westkante. Wir steigen hinterher. Sohn Lutz packts
über dem drittenRing nicht gleich, macht sich bockig und seilt wutentbrannt ab.
Es war auch zu anstrengend für
ihn mit seinen erst fast 16 Lenzen, mit dem vorangegangenen Spurt vom
Falkenstein zur Schrammsteinbaude und wieder zurück und seinem Überanstrengungserbrechen
hernach. Nun auch noch das!
Und dann schafft diese
„Direkte Westkante“ auch noch sein großer Bruder Uwe, auf hervorragend
exzellente Weise kommt er zur Kante, fädelt die Sanduhr und steigt und steigt. Das
alles nach diesen kraft- und moralzehrenden Vormittagsstunden.
Wunderbar ist’s an diesem
Freitag an diesem riesigen Felsklotz.
Ruhe, Sonne, Windstille,
Wohlfühltemperaturen. Zeit für die Freiheit.
Wir allein an diesem für uns
Zittauer Kletterer so mächtiggroßen Falkenstein. Wir allein im Gewänd.
Gewänd heißt nach dem „Strubichweg“
erst einmal „Reginawand“, diese mit fünf Ringen versilberte Reibungsplatte im
Nordosten.
Zwei Zweierseilschaften
hintereinander.
Verzweifelt versuch ich mich
an der Überwindung der Baustelle am dritten Ring ohne zu bauen. Alti und die Söhneseilschaft unter mir.
Habe ich da Stimmen gehört?
Offensichtlich gibt es also
noch mehr solcher „Unter-der-Woche-Kletterer“ hier an des Falkensteines
Nordostflanke an diesem Freitag.
Wir lernen sie kennen. Erschreckend
schnell.
In Klettererohren höchst
unangenehme Geräusche dringen zu uns, ein Rutschen und Schürfen, das Wetzen von
Karabinern, Kleidung und Haut über rauhen Fels. Dumpfe Aufschläge.
Dann bleibt dieser
menschliche Körper im Seil hängen, kommt unter mir auf einem Grasband an einer
dürren Birke zum Liegen, bewusstlos.
Eine blutige Angelegenheit.
Schreie von weit oben – eine
Mädchenstimme.
Die an dem in der Schlotte
hinter dem unteren Reitgrat des „Schusterweges“ in ihrer Ängstlichkeit tief
hineinverkeilte Enkeltochter hält nun mit ihrer Einbinde ihren Großvater in der
Wand, ihren Vorsteiger, der beim Sichern, wer weiß warum, aus seinem Standplatz
kippte und nun tief unter ihr und ganz dicht bei uns hing.
Lutz hat abzuseilen und um
Hilfe nach der Schrammsteinbaude zu rasen.
Alti hangelt hoch zu mir und
rüber zu ihm, setzt sich unter den Mann, nimmt dem Mädel am Reitgrat die Last,
kappt das schöne Westseil mit scharfer Klinge, hängt den Mann an sich und Uwe
lässt beide ab zur Plattform des „Nordostkamins“.
Erste Hilfe. Verlangsamte
Ansprechbarkeit.
Er klagt über wahnsinnige
Schmerzen. Nicht über die von den inneren oder den Kopfverletzungen her, nein,
die Hände sind’s, die nach außen umgeklappten Fingernägel.
Dann ist alles unten.
Motorengeräusch.
Sanität im Anrücken. Rettung.
Nur das Mädel steckt da oben
noch hinter dem Reitgrat.
Wir holen das total verängstigte
und vollkommen entnervte Menschenbündel aus der Spalte, bringen es mit einer
riesigen Portion an „Gut-Zurede- und Mutmacheeinheiten“ runter und können es
irgendwann dann in des Wandfußes sandigen Boden legen.
Ja, sie kämen aus Freital,
ihr Großvater Rudi wollte ihr den Falkenstein von oben zeigen.
Fügungen nenne ich solches.
Dieses Zusammentreffen an
diesem Wochenarbeitstag in dieser menschenleeren Sächsischen Schweiz. Beide am
Falkenstein. Beide auch noch an der Nordostseite dieses Riesenklumpens.
Die im „Schusterweg“.
Wir darunter in der „Reginawand“,
zu viert, wie zur Hilfe hinbestellt.
Dann eine weitere kleine Fügung.
Für uns. Ja, wir dürfen!
Wir fleddern Rudis Westseil,
schneiden uns die besten und noch nicht beschädigten Stücke heraus.
Beim Entlangwetzen des
gespannten Seiles über die Reitgratkante war
der Seilmantel über weite
Strecken abgeschabt, angeschmort,
aufgedrieselt.
Die Reststücke tun es noch
für uns, werden zu Schlingen.
Verschwinden in unseren
Rucksäcken.
Von nun an hat jeder seine
persönliche Rudischlinge.
Und immer mal, wenn uns diese
Schlinge aus Rudis ehemals so herrlichem Westseil an Platten- und Sanduhren und
mit ihrem Knoten in Rissen zu unserer Sicherheit im Fels beizutragen hatte, sprang
auch von uns aus ein klitzekleiner Rudigedanke aus steiler Wand nach Freital
hinüber.
P.S. Unter www.sandsteinklettern.de kann man selbst heute noch das
Bergunfallgeschehen von damals
nachlesen:
11.6.1982:
Der Sportfreund sicherte vom Ende des unteren Reitgrates die in der Mitte
des
Reitgrates befindliche
Sportfreundin. Diese bemerkte, dass sich der sichernde
Sportfreund vorbeugte
und stürzte. Die Nachsteigerin verklemmte sich am Reitgrat
und fing den Sturz teilweise ab. Der Sportfreund
stürzte bis zum Band des
Reginaweges.
Kopfverletzungen,
innere Verletzungen. Alter: 67
Klaus Zimmermann
Zurück